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Heinrich Hannover

Befreiung auf amerikanisch

Wir werden wieder einmal darauf eingestimmt, daß Kriege ihr Gutes haben können. Daß dies die Lehre aus der Geschichte sei, hat jüngst ein Philosoph (Jürgen Habermas) apodiktisch formuliert:

Die Terrorherrschaft der Nazis ist nur durch den Einsatz militärischer Gewalt und letztlich durch das Eingreifen der USA bezwungen worden. Die Europäer haben während des Kalten Krieges ihre Wohlstandsstaaten nur unter dem atomaren Schutzschild der USA auf- und ausbauen können.

Ähnlich hatten sich schon andere geäußert, die den weltweiten Protest gegen die Kriegspläne des amerikanischen Präsidenten Bush im Februar 2003 als Parteinahme für den irakischen Diktator Saddam Hussein diffamierten und die Dankbarkeit vermißten, die wir Deutschen den USA für die Befreiung vom Faschismus schuldeten. Einer, der in Bremen für einen Friedenspreis vorgesehen war, glaubte zu wissen, daß die „erstaunlich naiven deutschen Friedensfreunde immer noch nicht begriffen“ hätten, „was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und Europa geschehen ist und welche Konsequenzen heute daraus hätten gezogen werden sollen.“ Ein anderer erinnerte an die Beschwichtigungspolitik der Westmächte gegenüber Hitler, die 1938 zum Münchener Abkommen geführt hatte, und zog daraus die Folgerung, daß man gegen einen Pazifismus sein müsse, „der, wenn es nach ihm gegangen wäre, immer noch Milosevic in Belgrad und die Talibans in Kabul sähe.“

Ich will mich nicht mit Auffassungen auseinandersetzen, die, im Widerspruch zum geltenden Völkerrecht, den USA und ihren Verbündeten das Recht zubilligen wollen, Länder mit Krieg zu überziehen, deren Regierungschefs zu „Widergängern Hitlers“ erklärt werden und in Washington nicht - oder nicht mehr - gefallen. Den Kriegsbefürworten muß entgangen sein, daß ihre Helden Reagan und Bush mit Diktatoren und Massenmördern ungewöhnlich herzliche Beziehungen gepflegt und ihnen die Waffen für ihre Verbrechen geliefert haben. Und daß auch Hitler sich amerikanischer Sympathien erfreuen konnte, solange mit ihm Geschäfte zu machen waren.

Ich will nur auf die von den Kriegsbefürwortern immer wieder aufgestellte Behauptung eingehen, daß die Geschichte des 2. Weltkrieges - einschließlich seiner Vor- und Nachgeschichte - etwas gegen Pazifisten hergebe, die heute wie einst gegen den Massenwahn der permanenten Kriegswilligkeit kämpfen. Und ich will der Frage nachgehen, ob es wirklich die ganze Wahrheit ist, wenn gesagt wird, daß wir dem Einsatz militärischer Gewalt und letztlich dem Eingreifen der USA die Befreiung vom Faschismus zu verdanken hätten.

Daß die Pazifisten Schuld daran seien, daß es überhaupt einen Hitler und sein Terrorregime gegeben hat, haben auch andere behauptet. Schon 1982 hatte ein christdemokratischer Parteifunktionär die infame These aufgestellt, daß Pazifisten wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky für Auschwitz verantwortlich seien. Verleumdern dieses Schlages muß entgangen sein, daß Pazifisten wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky schon zu einer Zeit vor Hitler und dem deutschen Militarismus gewarnt haben, als es noch keines Krieges mit 50 Millionen Toten bedurft hätte, um Hitler wieder los zu werden. Und sie wollen offenbar vergessen machen, daß zu einer Zeit, als die westlichen Demokratien Hitler und seine Bande hofiert haben, obwohl deren Massenverbrechen vor aller Augen vorbereitet wurden, Pazifisten, Kommunisten und andere Antifaschisten, soweit sie nicht ermordet wurden, im KZ saßen oder im Exil an Deutschland verzweifelten.

Noch in jüngster Zeit war zu hören, daß Auschwitz nicht von Pazifisten, sondern von Soldaten befreit worden sei. Es fehlte übrigens der Hinweis, daß es sowjetische Soldaten waren. Und auch davon war nicht die Rede, daß diese Befreiung für Millionen Juden und andere Verfolgte zu spät kam. Auch der deutsche Außenminister Josef Fischer bemühte geschichtliche Erfahrungen mit Auschwitz, als er das völkerrechtswidrige Bombardement Jugoslawiens zu rechtfertigen versuchte. Mit wie viel Unwissenheit rechnen eigentlich Leute, die sich auf die Geschichte des 2. Weltkrieges berufen zu können glauben, wenn sie die im Interesse der US-amerikanischen Rüstungsindustrie geführten Kriege unserer Tage als menschenrechtsfreundliche Befreiungsschläge hinstellen?

Nichts haben diese Propagandisten des Krieges, die uns mangelnde Geschichtskenntnisse vorwerfen, aus der Geschichte gelernt, wenn sie davon ausgehen daß die für Angriffskriege vorgeschobenen Gründe die wirklichen Motive des Aggressors seien. Sie glauben, daß es wirklich um die Befreiung der überfallenen Länder von Diktatoren ging, und daß es zum Besten der in diesen Ländern lebenden Menschen geschah, wenn man tausende Männer, Frauen und Kinder tötete, wenn man ihre Krankenhäuser, Fabriken und Kraftwerke, ihre Fernsehsender, ihre Häuser und Brücken zerstörte und ihre Museen der Plünderung preisgab. Sie haben offenbar im Geschichtsunterricht gefehlt, als von den Provokationen, Lügen und Fälschungen die Rede war, mit denen Kriege herbeigeführt worden sind. Und sie haben die Augen verschlossen vor dem, was Kriege den von ihnen betroffenen Menschen gebracht haben.

Sie haben nicht einmal Recht, wenn sie für die berüchtigte appeasement genannte Beschwichtigungspolitik der Westmächte gegenüber Hitler pazifistische Grundhaltungen verantwortlich machen wollen. Freilich haben sich die westlichen Staatsmänner, die im Münchener Abkommen vom 29. September 1938 Hitlers Forderung auf Abtretung des Sudetenlandes sanktionierten, damit geschmückt, sie hätten durch dieses Zugeständnis den Frieden gerettet. Aber auch hier muß man zwischen verkündeten und wirklichen Absichten unterscheiden. Die Herren waren alles andere als Pazifisten, sie waren militante Antikommunisten, die Hitler als Figur in ihrem gegen die Sowjetunion gerichteten diplomatischen Spiel benutzen zu können glaubten. Und auch der Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg war nicht von der edlen Absicht getragen, den Faschismus zu beseitigen und die Menschen zu befreien, die unter ihm zu leiden hatten. Dieses aus Halbwahrheiten, Legenden und Geschichtsfälschungen zusammengesetzte, allerdings immer noch herrschende Geschichtsbild ist inzwischen von unabhängigen Historikern kritisch hinterfragt und widerlegt worden.

Lassen Sie mich mit dem Münchener Abkommen von 1938 beginnen, das uns als abschreckendes Beispiel pazifistischer Vertrauensseligkeit gegenüber terroristischen Diktatoren verkauft werden soll.

Man kannte Hitlers Kriegspläne seit dem Erscheinen seines Buches „Mein Kampf“. Er hat dort die Absicht der „Nationalsozialisten“, wie sie sich irreführend nannten, hinreichend deutlich verkündet, für das deutsche Volk Lebensraum im Osten, und zwar ausdrücklich in Rußland, zu erobern. Ich zitiere (Band 2, S.739 f.):

Demgegenüber müssen wir Nationalsozialisten unverrückbar an unserem außenpolitischen Ziele festhalten, nämlich dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern...

Der Grund und Boden, auf dem dereinst deutsche Bauerngeschlechter kraftvolle Söhne zeugen können, wird die Billigung des Einsatzes der Söhne von heute zulassen, die verantwortlichen Staatsmänner aber, wenn auch von der Gegenwart verfolgt, dereinst freisprechen von Blutschuld und Volksopferung.

(S.742:)

Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.

Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. Indem es Rußland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volk jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte....

(S.743:)

Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch.

Ziel einer deutschen Außenpolitik müsse sein, die Erwerbung der notwendigen Scholle für das deutsche Volk (S.757). Der emsigen Arbeit des deutschen Pfluges habe das Schwert den Boden zu geben (S.743).

Das war die geschwollene Sprache, mit der man in den folgenden Jahren ein ganzes Volk besoffen gemacht hat. Aber sie wurde auch in den Machtzentren des Westens verstanden. Hitler war für sie der geborene Bundesgenosse im Kampf gegen den gefürchteten Weltkommunismus.

Der belgische Historiker Jacques Pauwels, der die Ergebnisse einer Studie der kanadischen Historiker Clement Leibowitz und Alvin Finkel ausgewertet hat, schreibt in seinem Buch „Der Mythos vom guten Krieg“ (S.47):

Der Zweck der Befriedungspolitik bestand darin, Hitler durch Zugeständnisse zu einem Kreuzzug gegen das Heimatland des Kommunismus zu bewegen. Diese Politik scheiterte jedoch jämmerlich; 1939 weigerten sich zu Hitlers Überraschung Briten und Franzosen, nach Österreich und der Tschechoslowakei auch noch Polen auf dem Altar des Appeasement zu opfern, und zur Verwunderung der Briten und Franzosen schloß der deutsche Diktator einen Vertrag mit Stalin.

Die Quintessenz der Befriedungspolitik hatte darin bestanden, Stalins Vorschläge zu einer internationalen Zusammenarbeit gegen Hitler zu ignorieren und stattdessen Hitler zu stimulieren, seinen angekündigten Eroberungsfeldzug gegen die Sowjetunion zu beginnen.

Pauwels schreibt (S.45:)

Diese Politik erreichte ihren Tiefpunkt mit dem Münchener Abkommen von 1938, das den Nazis die Tschechoslowakei als eine Art Sprungbrett für ihre erwartete (und erhoffte) Militäraggression in Richtung Moskau anbot.

Pauwels stellt unter gründlicher Auswertung von Quellen dar, daß die Machteliten der USA nicht im Hitler-Faschismus, sondern im Kommunismus die große Gefahr für die globalen Interessen des Kapitals sahen. Der deutsche Faschismus genoß bei amerikanischen Kapitalisten sogar große Sympathien. Hitler hatte der Welt vorgeführt, wie man sich der Bedrohung der kapitalistischen Herrschaft durch Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschaften durch deren politische und physische Ausschaltung entledigen konnte, und das imponierte ihnen.

Ich zitiere Pauwels (S.29 f.):

Besonders viel Sympathie genossen der deutsche Diktator und seine Ideen bei den Eigentümern, Managern und Aktionären der gigantischen US-Unternehmen, die seit den 20er Jahren beträchtliche Investitionen in Deutschland getätigt hatten, mit deutschen Firmen gemeinsame Projekte eingegangen waren oder Verträge abgeschlossen hatten, die man heutzutage als „strategische Partnerschaften“ bezeichnet. Ihre deutschen Niederlassungen oder Partnerfirmen - wie zum Beispiel die Firma Opel von General Motors in Rüsselsheim, die Fordwerke in Köln, der Coca-Cola-Betrieb in Essen oder die IG-Farben als Partner von Standard Oil - florierten unter einem Regime, das den Gewerkschaftseinfluß beseitigt hatte, mit einem gigantischen Wiederaufrüstungsprogramm für Bestellungen am laufenden Band sorgte und über korrupte Nazi-Bonzen wie Göring, gewissenlose Bankiers wie Schacht und Finanzinstitute in Deutschland selbst oder in der Schweiz zu beiderseitigem Vorteil wunderbar mit sich handeln ließ.

Noch im Jahr 1939, also am Vorabend des Krieges, rechtfertigte der Vorstandsvorsitzende von General Motors die Aktivitäten seines Unternehmens in Hitler-Deutschland mit der „hohen Rentabilität“. Immerhin repräsentierten General Motors und Ford damals 70 % des deutschen Automarktes und standen bereit, die deutsche Armee mit all dem Material zu versorgen, das der bevorstehende Krieg erforderte (Pauwels, S.30).

Daß es die herrschende Klasse auch in den USA nicht störte, wenn Hitler Kommunisten, Gewerkschafter und Sozialisten im KZ einsperrte und sie völliger Rechtlosigkeit und brutaler Willkür auslieferte, ist gerne zu glauben, wenn man sieht, was noch heute in Guantanamo möglich ist.

Ich zitiere noch einmal den belgischen Historiker Pauwels (S.33):

In den Augen beinahe aller Führungspersönlichkeiten in den US-Corporations war es Hitlers großes Verdienst, daß sie in seinem „Dritten Reich“ keine Probleme mit Gewerkschaften und Arbeiterparteien hatten, was zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten selbst durchaus der Fall war. Außerdem konnten sie in Deutschland dank der Rüstungskonjunktur Geschäfte tätigen und Gewinne machen, von denen sie im eigenen Land nur träumen konnten. So kann man verstehen, daß der Vorsitzende von General Motors Hitler-Deutschland nach einem Besuch bei Göring im Jahre 1933 als „das Wunder des zwanzigsten Jahrhunderts“ beschrieb und daß viele US-Großindustrielle heimlich oder ganz offen auf einen ähnlichen faschistischen Heiland auch in den USA hofften.

Auch mit dem Rassismus der deutschen Faschisten hatten die maßgebende Kreise der US-amerikanischen Öffentlichkeit kaum Probleme. Selbst in der US-Armee gab es vielfältige Formen von offiziellem Rassismus.

Bei der höchsten Heeresleitung gab es nicht wenige Generäle - Eisenhower, Marshall und Patton, um drei bekannte Namen zu zitieren -, die ebenso wie die Nazis felsenfest von der Höherwertigkeit der weißen Rasse überzeugt waren. Und in den US-Militärkrankenhäusern wurde „weißes“ und „schwarzes“ Blutplasma streng getrennt aufbewahrt.

Der amerikanische Historiker Stephen Ambrose nannte es eine Ironie der Geschichte,

daß wir in unserem wichtigsten Krieg gegen den größten Rassisten der Welt mit einer Armee kämpften, die eine strikte Rassentrennung handhabte, und daß wir in unserem eigenen Land auf der Basis von Gesetzen oder Traditionen ein System der Rassendiskriminierung aufrechterhalten. (Pauwels, S.34 f.)

Auch an dem in Hitler-Deutschland propagierten und praktizierten Judenhaß störte man sich damals in den USA wenig oder gar nicht. Antisemitismus gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA. Den hauseigenen US-amerikanischen Antisemitismus und das in den USA vorhandene faschistische Potential hat Theodor W. Adorno in seinen berühmten „Studien zum autoritären Charakter“ auf Grund umfassender Felduntersuchungen in den USA der 40er Jahre in einer bestürzenden Dokumentation beschrieben und analysiert. In der von Adorno und seinen Mitautoren gemeinsam erarbeiteten Einleitung zu dieser Untersuchung heißt es (S.5):

Im Deutschland vor Hitler wurde weniger offener Antisemitismus beobachtet als gegenwärtig hier bei uns.

Das konnte zu einer Zeit gesagt werden, als in Deutschland der staatliche Massenmord an Juden bereits stattgefunden hatte und die USA einen Krieg angeblich zur Befreiung der Menschheit vom Hitler-Faschismus geführt hatten.

Der einflußreiche Industrielle Henry Ford war bekennender Antisemit, der sich nicht schämte, noch 1938 eine hohe Auszeichnung aus der Hand des von ihm bewunderten und geförderten Führers Adolf Hitler entgegen zu nehmen.

Ein weiterer glühender und einflußreicher US-amerikanischer Antisemit war Charles E. Coughlin, ein katholischer Priester aus Michigan, der in seinen täglichen Radioansprachen Millionen Zuhörer gegen den Judaismus aufhetzte, den er mit dem Bolschewismus gleichsetzte, wie Hitler es tat. (Pauwels, S.35)

Pauwels kommt zu dem Schluß (S.35):

Wegen Hitlers antisemitischer Worte und Taten waren die USA sicher nicht bereit, einen Kreuzzug in Europa zu führen.

Nein, auch der 2. Weltkrieg war für die herrschende Kapitalistenklasse der USA ein lukratives Geschäft und brachte eine Lösung des Arbeitslosenproblems, wie sie ihnen Hitler mit seinem Kriegsrüstungsprogramm vorgemacht hatte. Zunächst, solange die USA noch nicht selbst in den Krieg eingetreten waren, wurde mit Hochdruck für die britische Rüstung produziert. Dem Krieg in Europa sah man bis in den Herbst 1941 gelassen zu, in der Erwartung, daß Hitlers Armeen auch die Sowjet-Union in kürzester Zeit besiegen würden, wie ihnen dies mit Polen und Frankreich gelungen war. Vergeblich blieben zunächst Stalins dringende Bitten um Waffenlieferungen, denn ein Kunde, dessen baldiger Bankrott erwartet wird, erhält in der kapitalistischen Welt nun einmal keinen Kredit.

Als aber im Winter 1941/42 Hitlers Wehrmacht von der Roten Armee zum Stehen gebracht worden war und sich eine Wende des Krieges abzeichnete, wurde auch die Sowjet-Union als Handelspartner interessant. Pauwels schreibt (S.62):

Der UdSSR kam also das Verdienst zu, daß sie dafür sorgte, daß der USA wichtigster Kunde, Großbritannien, militärisch und damit auch wirtschaftlich überleben konnte; aus diesem Stand der Dinge würde die US-Industrie bis auf weiteres großen Nutzen schlagen können. Die Situation wurde aber für „Konzern-Amerika“ noch vorteilhafter, als sich herausstellte, daß nunmehr auch mit den Sowjets Geschäfte gemacht werden konnten. Im November 1941, als allmählich klar geworden war, daß die Sowjetunion nicht vor dem Zusammenbruch stand, weitete Washington seine Kredite auf Moskau aus und schloß mit der UdSSR ein Leih-Pacht-Abkommen. So wurden die Vereinigten Staaten zum Partner eines Staates, den Washington und die US-Machteliten früher gründlich verabscheut hatten.

Die Machteliten der USA und deren Medien hofften nunmehr auf einen langdauernden Krieg zwischen Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion, in dem beide Mächte ihre Kräfte zermürben und den USA und ihrem britischen Verbündeten die Aufgabe zufallen würde, in Europa eine Ordnung nach ihren Vorstellungen zu errichten. Bezeichnend für diese Haltung war eine Äußerung des späteren Präsidenten Harry S. Truman vom 24. Juni 1941 - das war zwei Tage nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjet-Union:

Wenn wir sehen, daß Deutschland auf der Gewinnerstraße ist, müssen wir Rußland helfen, und wenn Rußland auf dem Weg ist, den Sieg davonzutragen, dann müssen wir Deutschland helfen, so daß auf diese Weise auf  beiden Seiten so viele wie möglich umkommen. (Pauwels, S.63)

Im Sommer 1943, als die Rote Armee die letzte große Panzeroffensive der Nazi-Wehrmacht bei Charkow zum Stehen gebracht hatte und man Rußland auf der Gewinnerstraße sah, verfaßte der amerikanische Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) - ein Vorläufer des CIA - ein geheimes Grundsatzpapier und übergab es dem „Gemeinsamen Amerikanisch-Britischen Generalstab“. Das Papier befaßte sich mit der Frage, wie man künftig mit einem siegreichen kommunistischen Verbündeten umgehen sollte. Als bei einem amerikanisch-britischen Generalstabstreffen am 20. August 1943 dieses Papier beraten wurde, fragte General Marshall die anwesenden hohen britischen und amerikanischen Generalstabsoffiziere: „Würden die Deutschen unseren Einmarsch in ihr Land erleichtern, damit wir im Fall eines überwältigenden russischen Erfolgs die Russen zurückwerfen können?“ (Bruns, S.17) Dies war eine der Varianten, die der amerikanische Geheimdienst vorgeschlagen hatte. Auf jeden Fall wurde nunmehr im westlichen Hauptquartier darüber nachgedacht, wie man verhindern könne, daß ganz Deutschland eine Kriegsbeute des ungeliebten kommunistischen Verbündeten wurde.

Jahrelang hatte Stalin bei seinen westlichen Verbündeten vergeblich darauf gedrängt, den mit ungeheuren Verlusten verbundenen Bodenkampf gegen die Hitler-Wehrmacht durch Errichtung einer zweiten Front in Frankreich zu unterstützen. Daß die Westalliierten sich in der nordafrikanischen Wüste Panzerschlachten mit Rommels Armee lieferten und 1943 in Italien landeten, brachte für die Sowjets keine wesentliche Entlastung.

Bis zum Sommer 1944, also drei Jahre lang, ließen die Westmächte ihren sowjetischen Verbündeten mit der Hauptlast des Krieges, den Bodenkämpfen an der Ostfront allein. Erst als sich die Gefahr abzeichnete, daß die Rote Armee allein in Deutschland einmarschieren könnte, entschloß man sich zur Landung in der Normandie, die dann am 6.Juni 1944 den Zweifrontenkrieg eröffnete und die relativ schnelle Endphase des Krieges einleitete.

Aber auch dann gab es Bestrebungen der Westmächte, ihren ungeliebten Verbündeten um die Früchte des Sieges zu bringen, noch bis in die letzten Kriegstage. Am liebsten hätte man sich wohl auf die von deutscher Seite vorgeschlagenen einseitigen Kapitulationsangebote an der Westfront eingelassen, die von hohen Offizieren der Wehrmacht und der Waffen-SS und zuletzt noch von Hitlers Nachfolger Dönitz ausgingen. Aber einen solchen eklatanten Bruch der zwischen den Alliierten getroffenen Vereinbarungen, der auf eine Fortführung des Krieges gegen den bisherigen Verbündeten Sowjet-Union unter Mitwirkung deutscher Truppen hinausgelaufen wäre, traute man sich denn doch nicht zu.

Im Geheimen gab es allerdings, wie wir heute wissen, Planungen für einen mit Atomwaffen zu führenden Krieg gegen die Sowjet-Union schon seit 1945. Und wenn sich der amerikanische General Patton durchgesetzt hätte, wäre der zweite Weltkrieg bruchlos in den dritten übergegangen. In einem Telefongespräch mit General Joseph McNarney, dem Stellvertreter Eisenhowers, soll Patton gesagt haben:

Früher oder später werden wir sie (die Sowjets) sowieso bekämpfen müssen (...) Warum nicht jetzt, während unsere Armee noch intakt ist und wir innerhalb von drei Monaten die verdammten Russen mit einem Tritt in den Hintern nach Rußland kicken können? Es wäre ganz leicht mit der Hilfe der deutschen Truppen in unserer Gefangenschaft, wir brauchen sie nur zu bewaffnen und mit uns mitzunehmen, sie hassen ja die Schweinehunde. Innerhalb von zehn Tagen kann ich genügend Vorfälle inszenieren, um einen Krieg gegen diese Scheißkerle auszulösen, und es wird aussehen, als ob sie Schuld daran hätten und ein Angriff unsererseits hundertprozentig berechtigt sei. (Pauwels, S.141)

Zu einer solchen flagranten Verletzung des zwischen den Mächten der Anti-Hitler-Koalition bestehenden Bündnisses kam es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die amerikanische Öffentlichkeit war auf einen solchen Frontwechsel noch nicht genügend vorbereitet. Auch besaß man noch nicht genug spaltbares Material, um die riesige Sowjetunion damit atomar besiegen zu können.

Aber es gab Sonderverhandlungen zwischen deutschen und westalliierten Militärs, die den Interessen des sowjetischen Verbündeten durchaus zuwiderliefen. So wurden im März 1945 in der neutralen Schweiz Verhandlungen zwischen dem US-Geheimagenten Allen Dulles und dem SS-General Karl Wolff, dem Verantwortlichen für 300.000 Judenmorde, geführt, bei der es um die deutsche Kapitulation an der italienischen Front ging. Als Stalin von diesen Verhandlungen erfuhr, hat er bei dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt protestiert und erreicht, daß die Kontakte abgebrochen wurden. Aber es blieb bei einer persönlichen Freundschaft zwischen dem später zum Chef des CIA avancierten amerikanischen Agenten Dulles und dem Kriegsverbrecher Karl Wolff, die dazu beitrug, daß der SS-General wegen seiner Kriegsverbrechen nur relativ milde bestraft und bald begnadigt wurde. Und das Ziel der zwischen Dulles und Wolff geführten Verhandlungen wurde auf anderem Wege doch erreicht, nämlich eine vorzeitige Kapitulation der deutschen Wehrmachtsverbände in Italien, die den Weg der US-Truppen nach Deutschland frei gab und den Amerikanern Gelegenheit bot, die populäre antifaschistische Widerstandsbewegung, in der Kommunisten und Partisanen eine wichtige Rolle spielten, von der Neugestaltung der politischen Machtverhältnisse in Italien auszuschließen (vgl. Pauwels, S.98 f.). Eine gegen den sowjetischen Verbündeten gerichtete amerikanische Eigenmächtigkeit, die Stalin den Ansporn und das moralische Recht gab, in den von der Roten Armee besetzten Ländern die politischen Machtverhältnisse nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Ich weiß nicht, ob der Winston Churchill zugeschriebene Ausspruch „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet“ verbürgt ist. Aber die Nachkriegspolitik der Westmächte, die darauf gerichtet war, nun endlich das richtige Schwein zu schlachten, läßt den Satz glaubwürdig erscheinen.

Mit den auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben, die mehrere hunderttausend Menschen das Leben kosteten, hatte die USA-Regierung ein neues Kapitel in der Geschichte der Kriegsverbrechen begonnen. Dieser Massenmord diente einem von langer Hand vorbereiteten machtpolitischen Zweck. Es sollte ein Drohpotential gegen den bisherigen Verbündeten Sowjet-Union demonstriert werden, das von der Fähigkeit und der Bereitschaft kündete, die globalen Interessen der kapitalistisch beherrschten Welt mit allen Mitteln zu wahren, notfalls auch mit Massenmord.

Die offizielle Erklärung, wonach die Atombombenabwürfe dem Ziel gedient hätten, den Krieg gegen Japan abzukürzen, ist durch Untersuchungen amerikanischer und deutscher Historiker - Gar Alperovitz, Gregg Herken, Gabriel und Joyce Kolko, Karl Heinz Roth und Jürgen Bruhn - widerlegt.

Der alleinige Besitz der Atombombe gab der US-Regierung gegenüber dem bisherigen ungeliebten Bundesgenossen Sowjetunion eine Machtposition, die man rigoros zur Durchsetzung eigener Interessen auszunutzen gedachte. Das mußte, wie der amerikanische Historiker Alperovitz formuliert,

zwingend zur Doktrin des Präventivkrieges führen, um in der verbleibenden Frist der strategischen Rüstungsüberlegenheit den Weltfrieden zu US-amerikanischen Bedingungen herbeizupressen.

Ein Denken, dem das Recht des Stärkeren, also eine typisch faschistische Kategorie, selbstverständlich ist. Und so wurden denn tatsächlich Pläne zur Führung eines präventiven Atomkrieges gegen die Sowjetunion erarbeitet. Das wurde einer kleinen, politisch interessierten Öffentlichkeit schon vor Jahren in Veröffentlichungen von Karl Heinz Roth (in: Dokumentationsstelle zur NS-Sozialpolitik, 1985, Heft 9/10) und Jürgen Bruhn (Der Kalte Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion, 1995) mitgeteilt, von den großen anzeigenabhängigen Medien und den auf freundschaftliche Beziehungen zum großen Bruder USA bedachten Politikern freilich taktvoll verschwiegen.

Schon in den 40er Jahren begannen amerikanische Geheimdienste und die vom militär-industriellen Komplex betriebenen Denkfabriken mit der Entwicklung von Strategien zur Vernichtung der Sowjetunion mit Atomwaffen. Zunächst ein paar Erläuterungen zu den Begriffen militär-industrieller Komplex und Denkfabriken und deren Aufgaben, die ich dem oben erwähnten Buch des an einer kalifornischen Universität lehrenden deutschen Politikwissenschaftlers Jürgen Bruhn entnehme (S.106):

Der amerikanische militär-industrielle Komplex, der sich aus dem Top-Management der Rüstungs-, High Tech- und Zulieferindustrien, aus den militärischen Führungsspitzen des Pentagon und anderen an der Militarisierung interessierten Einrichtungen der Staatsbürokratie und der Wirtschaft ... und Tausenden von hervorragenden Fachwissenschaftlern und Ingenieuren in den Forschungslabors der Rüstungs- und High Tech-Konzerne und der maßgeblichen Universitäten zusammensetzte, war auch gleichzeitig der Schöpfer der Jahrhundertlüge von der „Bedrohung aus dem Osten“. ... Ohne das Feindbild Sowjetunion, ohne diese Bedrohungslegende hätte man den militär-industriellen Komplex um seine enormen wirtschaftlichen Wachstumsraten und Superprofite gebracht.

Wesentlicher Bestandteil des militär-industriellen Komplexes sind die Denkfabriken, deren Aufgabe es ist, die Notwendigkeit neuer Waffensysteme der Öffentlichkeit und dem Kongreß gegenüber zu vertreten. Die größte und wichtigste dieser Denkfabriken, die RAND-Corporation in Santa Monica, Kalifornien, die mit finanziellen Zuwendungen der Luftfahrtindustrie und des Pentagon wohlversehen ist, plante und produzierte die meisten der wesentlichen Militär-Strategien und Atomkriegs-Doktrinen.

In den Büros dieser Denkfabrik entstanden die heute geläufigen Begriffe wie „Supermächte“, „Gleichgewicht des Schreckens“, „Nuklearer Abtausch“, „Atomarer Erstschlag“, „Atomarer Ersteinsatz“, „Entwaffnungsschlag“, „Nukleare Abschreckung“, „Begrenzter Atomkrieg“ ... etc. (Bruns, S.174)

Wichtigste Aufgabe der Denkfabriken aber war und ist die Erfindung immer neuer Bedrohungslegenden. Obwohl oder gerade weil man wußte, daß die Sowjetunion nach den furchtbaren Menschenverlusten und Zerstörungen, die dem Land im 2. Weltkrieg zugefügt worden waren, nichts nötiger als Frieden brauchte, phantasierte man eine in militärischen Angriffsplänen bestehende „Gefahr aus dem Osten“, der mit enormen Rüstungsanstrengungen entgegengetreten werden müsse. Daß nach 1945 immer wieder Friedensappelle von Moskau ausgingen und Friedensaktivitäten in aller Welt, wie z.B. der Stockholmer Appell zur Ächtung der Atomwaffen oder die Weltfriedensbewegung, von Kommunisten gefördert und mitgetragen wurden, wurde in Beweise für die Tarnung der eigentlichen Aggressionsabsichten umgemünzt. Es war ja auch so einfach, einer unwissenden und auf die rote Gefahr eingestimmten Öffentlichkeit die Nachrüstungsanstrengungen der Sowjets als das Primäre und die Rüstungsproduktion der Westmächte als Nachrüstung hinzustellen. Und die Medienmacht der Denkfabriken reichte aus, um jedenfalls in der kapitalistisch beherrschten oder beeinflußten Welt die Gehirne der Mehrheit so zu vernebeln, daß sich die kollektive Kriegsangst gegen die Sowjets und nicht gegen die wirklichen Kriegsinteressenten richtete.

Am 3. November 1945, also noch in dem Jahr, in dem man gemeinsam mit der Sowjetunion den Hitler-Faschismus niedergeworfen hatte, gab das Vereinigte Geheimdienstkomitee (Joint Intelligence Committee) eine Direktive unter dem Titel „Atombombenziel Sowjetunion“ heraus.

In dem Szenario wurden die 20 wichtigsten sowjetischen Industrie- und Regierungszentren, darunter Moskau, Leningrad, Gorki, Swerdlowsk, Novosibirsk, Omsk, Kazan, Baku, Kubyschew, Tiflis, Stalingrad etc. als Atombombenziele angegeben, die nach Annahme einer „bevorstehenden sowjetischen Aggression“, so das Memorandum, durch einen präventiven begrenzten Atomschlag („limited Atomic Air Attack“) zerstört werden sollten. (Bruhn, S.28)

Weiter hieß es in dem Memorandum:

Zu den wichtigsten Besonderheiten der Atomwaffen gehört es, große Menschenansammlungen vernichten zu können, und von dieser Besonderheit muß man zusammen mit ihren anderen Eigenschaften Gebrauch machen. (Bruhn, S.28)

Eine wie aus dem Wörterbuch des Unmenschen entnommene Sprache, die sich der „Besonderheiten“ erinnert, von denen man schon in Hiroshima und Nagasaki „Gebrauch gemacht“ hat.

Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden über ein Dutzend solcher Atomkriegspläne in Washington ausgeheckt. Einer dieser Pläne, er stammte aus dem Jahr 1947, hieß „Broiler“, was soviel wie „Verkohler“, „Verbrater“ oder „Griller“ heißt.

Atomar verbraten werden sollten - wegen „Annahme einer bevorstehenden sowjetischen Aggression““ - wieder 20 bevorzugte sowjetische Städte. Doch diesmal wollte man die Sowjetunion nach erfolgten präventiven Atomschlägen auch durch Okkupationstruppen besetzen.

Das Memorandum nannte auch die Aufgaben der Besatzungsstreitkräfte:

a)

 Die Vernichtung der kommunistischen Diktatur in der UdSSR und überall in der Welt, letztlich die Vernichtung der sowjetischen Doktrin des Kommunismus.

b)

Die Zurückdrängung Rußlands in die Grenzen von 1939; die Einwirkung auf die Bevölkerung einzelner Teile der UdSSR, damit diese einen unabhängigen Status erlangt oder Föderationen bildet...

Während die ersten Pläne sich noch mit der Zerstörung von 20 sowjetischen Städten begnügten, sahen Planungen aus den Jahren 1948 und 1949 schon 50 bis 100 Städte als Atombombenziele vor. Der „Halfmoon“ genannte Atomkriegsplan aus dem Jahr 1949 wurde zum Vorbild aller weiteren atomaren Planungen bis hin zur „flexibel response“-Strategie der NATO.

Ein unter dem Namen „Dropshot“ bekannt gewordenes Atomkriegsführungs-Szenario sah vor, daß in der Anfangsphase ca. 300 Atombomben und 20.000 Tonnen konventioneller Bomben auf ca. 200 Ziele in 100 sowjetischen Städten abgeworfen werden sollten, die 85 % der sowjetischen Industrieanlagen vernichten sollten. Auch dieser Plan ging von einer Bedrohung durch eine sowjetische Aggression gegen die USA aus. Es hieß in der Studie:

Um den 1. Januar 1957 herum ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.

Die US-amerikanischen Atomkriegsplanungen wurden der Sowjetregierung zugespielt in der Absicht, diese zu eigenen Rüstungsanstrengungen zu zwingen. Man wußte auch in den USA, daß die Sowjetunion größte Probleme hatte, ihre durch Hitlers Armeen zerstörte Wirtschaft wieder aufzubauen und nichts nötiger brauchte als Frieden. Aber die mit einer aggressiven Außenpolitik und konkreten Angriffsplanungen verbundenen gigantischen Rüstungsinvestitionen der USA stießen die Sowjetunion in einen Teufelskreis.

Jürgen Bruhn schreibt (S.25):

Sie wurde gezwungen nachzurüsten, immer wieder und wieder, bis zu ihrem Ableben. Durch ihre enormen Rüstungsanstrengungen gelang es ihr zwar, einen amerikanischen atomaren Präventivschlag zu verhindern; aber sie konnte so ihre zerstörte Wirtschaft nicht schnell genug wieder aufbauen und später war sie auch u.a. durch die immensen Finanzmittel, die sie für Verteidigung und Nachrüstung zur Verfügung stellen mußte, nicht in der Lage, ihr Wirtschaftssystem zu modernisieren, demokratisieren und zu de-zentralisieren.

Demgegenüber war die Rüstungsindustrie für die Konjunktur der kapitalistischen USA unentbehrlich, sie lebte von der Existenz der Sowjetunion und der von ihr angeblich ausgehenden militärischen Gefahr. Solange es die Sowjetunion gab, boten die USA, wie Jürgen Bruhn (S.104) schreibt,

das Bild eines Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, das infolge der Macht und des uneingeschränkten Wachstums- und Profitstrebens des militär-industriellen Komplexes unfähig war, ernsthafte Entspannungs- oder gar Abrüstungspolitik zu betreiben.

Man müsse sich fragen, ob Amerikas Wirtschaft überhaupt Frieden aushalten könne.

Für die nordamerikanische Rüstungsindustrie gab es nichts Schlimmeres als wirkliche Abrüstungsverhandlungen und damit das Wegverhandeln ihrer zukünftigen Waffensysteme.

Der amerikanische Publizist und Verteidigungsexperte Sidney Lens schrieb 1963 (Bruns, S.106):

Damit unser Land weiterhin Berge von Geld für die Rüstung ausgeben wird, ist es wichtig, daß die kommunistische Bedrohung im Bewußtsein der Amerikaner an erster Stelle steht... Der Anti-Kommunismus ist der Motor unseres militär-industriellen Komplexes.

Damit begann die Zeit des Rüstungswettlaufs, in der das Überleben mindestens der europäischen Bevölkerung davon abhing, daß keiner der Exponenten der beiden Supermächte die Nerven verlor und nicht ein Mißverständnis oder sonstiges Unglück die Betätigung des roten Knopfes zur Folge hatte, mit dem der Atomkrieg ausgelöst werden konnte. Strategie der atomaren Abschreckung nannte man dieses unglaublich verantwortungslose Spiel mit dem Leben der Menschheit, das auch in Deutschland als „Verteidigung der Freiheit“ gegenüber der „roten Gefahr“ ausgegeben und geglaubt wurde.

Für die Deutschen war diese in Nordamerika erfundene Abschreckungsstrategie besonders makaber, weil sie im Falle ihres Versagens den atomaren Massenselbstmord in unserem Land in Kauf nahm. Aber unter der Führung des christdemokratischen Bundeskanzlers Adenauer, den das deutsche Fernsehpublikum kürzlich zum bedeutendsten Deutschen aller Zeiten gewählt hat, gelang es seinen Propagandisten, aus einer Nation, die gerade erst die Erfahrungen eines Krieges hinter sich hatte und sich mehrheitlich zum „Nie wieder Krieg!“ bekannte, wieder eine Herde militanter Antikommunisten zu machen, die zum dritten Weltkrieg bereit war. „Die Gefahr aus dem Osten“, „Die Russen kommen“, „Wir kennen die Russen“, „Lieber tot als rot“ - das waren einige der Schlagworte, mit denen man in den 50er Jahren die Köpfe vernebelt hat.

Das erinnert mich an die Zeit in der ich zusammen mit anderen Anwaltskollegen vor dem Düsseldorfer Landgericht führende Persönlichkeiten des Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland gegen den Vorwurf verteidigt habe, daß die Weltfriedensbewegung, in der, wie könnte es anders sein, auch Kommunisten mitwirkten, verfassungsfeindliche Ziele verfolge. Das war 1959/60, als die von dem christlich-demokratischen Bundeskanzler Konrad Adenauer geführte Bundesregierung und alle marktbeherrschenden Medien in der deutschen Bevölkerung die Angst vor einer sowjetischen Aggression schürten. Schon damals haben wir diese feindselige Propaganda als systematisches Lügengebäude entlarven und die unter dem Namen „roll back“ bekannt gewordenen Kriegsplanungen der USA in einer Fülle von Beweisanträgen nachweisen wollen, die allesamt zurückgewiesen wurden. Wir kannten zur Zeit des Friedenskomitee-Prozesses nur einen Teil der barbarischen Realität, aber selbst den wollten die im Namen des Volkes judizierenden Herren nicht zur Kenntnis nehmen. Eine Friedensbewegung, an der auch Kommunisten teilnahmen, konnte in ihren Augen nur dem Ziel dienen, die Bundesrepublik wehrlos gegenüber den sowjetischen Aggressionsabsichten zu machen.

Ich denke weiter an den Prozeß, in dem ich den aus der SPD ausgetretenen Sozialisten Lorenz Knorr 1963 und 1964 in Solingen und Wuppertal gegen den Vorwurf der Beleidigung von Hitler-Generälen verteidigen mußte. Knorr hatte in einer Rede bestimmte namentlich genannte Generäle der Hitler-Wehrmacht, die beim Aufbau der Bundeswehr wieder eine Rolle spielten, als Massenmörder bezeichnet und die Sorge geäußert, daß einem um die deutsche Zukunft bange werden könne, wenn die deutsche Jugend diesen Hitler-Generälen anvertraut werde. Der damalige Bundesverteidigungsminister und einstige NS-Führungsoffizier Franz Josef Strauß hatte Strafantrag gestellt. Anklage erhob ein Staatsanwalt, der an faschistischer Terrorjustiz beteiligt gewesen war - er hatte Todesurteile gegen tschechische Staatsangehörige erwirkt, die ihrer Gegnerschaft gegen Hitlers Krieg Ausdruck gegeben hatten. Als Richter in erster Instanz amtierte ein Jurist, der unter Hitler als Ankläger beim Sondergericht Wuppertal gewirkt hatte.

Es ging in diesem Prozeß um die Frage, ob die Ehre von Hitler-Generälen gegen den Vorwurf des Massenmords geschützt werden müsse. Ich fragte damals: Waren es wirklich Ehrenmänner, die Hitlers Eroberungspläne in die Tat umgesetzt und mit Millionen deutscher Soldaten Mord und Brand in andere Länder getragen haben? Aber wir hatten es mit Richtern und Staatsanwälten zu tun, die den bereits wieder zeitgemäß gewordenen Zeitgeist von gestern vertraten und dem pazifistischen Kritiker den Mund verbieten wollten.

Die Bedrohungslegende der Adenauer-Zeit, mit der die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik betrieben wurde, war eine grandiose Irreführung der Öffentlichkeit über die wirklichen Gefährdungen des Weltfriedens. Und sie ging einher mit der Wiedereinsetzung des alten im Hitler-Reich bewährten Personals, das sich in seiner hergebrachten antikommunistischen Geisteshaltung in neuer christlich-sozial-demokratischer Verbrämung bestätigt fühlen konnte, wenn es erneut galt, den Kommunisten und der Sowjetunion den Kampf anzusagen. Diesmal im Bündnis mit der scheinbar über jeden Zweifel erhabenen amerikanischen Supermacht.

Der Koreakrieg von 1950 bildete den Ansatzpunkt für die der nachfolgenden Kommunistenverfolgung zugrundegelegte Propagandalüge, daß der Weltkommunismus sich im Wege militärischer Aggressionen ausbreiten wolle. Daß dieser Krieg mit einem Überfall des kommunistischen Nordkorea auf das friedliche demokratische Südkorea begonnen habe, war eine Geschichtsfälschung, die in ihrer absichtsvollen Erfindung und verheerenden Auswirkung an die Legende der Nazis erinnert, daß die Kommunisten den Reichstag angezündet hätten. Die Korealegende finden Sie noch heute in gängigen Geschichtsbüchern, obwohl sie von Heinz Kraschutzki (Die verborgene Geschichte des Koreakriegs) schon 1957 und später noch einmal in einem roro-aktuell-Taschenbuch (Südkorea - kein Land für friedliche Spiele) widerlegt worden ist. Selbst Gustav Heinemann ist mit dem Versuch gescheitert, sie im Bundestag in Frage zu stellen. Und im Düsseldorfer Friedenskomitee-Prozeß hatten wir selbstverständlich auch keine Chance, unseren Beweisantrag zum Koreakrieg durchzubringen. Mit der Erkenntnis, daß der Weltfrieden nicht von der Sowjetunion, sondern von den USA gefährdet wurde, wäre eines der ideologischen Standbeine der politischen Justiz gegen Kommunisten zusammengebrochen.

Die auf die angebliche rote Gefahr fixierte Außenpolitik der USA und ihres deutschen Satelliten kam denn auch nicht ohne Reaktivierung der alten Nazi-Eliten aus, die schon unter Hitler das richtige Schwein schlachten wollten. Konrad Adenauer hatte die von Lorenz Knorr als Massenmörder bezeichneten Generäle Hans Speidel, Hermann Foertsch und Adolf Heusinger mit der Abfassung einer Denkschrift zur Frage der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik beauftragt. Diese enthielt, wie nicht anders zu erwarten, die Forderung: „Rehabilitierung des deutschen Soldaten“, „Freilassung der als ‚Kriegsverbrecher’ verurteilten Deutschen“ und „Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten von Seiten der Bundesregierung und der Volksvertretung“. Und die Regierung Adenauer beeilte sich, diesem Wunsch nachzukommen und sich beim amerikanischen Hochkommissar für die Begnadigung der von Gerichten der Militärregierung verurteilten Kriegsverbrecher einzusetzen. Mit dem Erfolg, daß schon im Jahr 1952 der letzte dieser Kriegsverbrecher in eine Freiheit entlassen wurde, die ihnen neue Betätigungsmöglichkeiten ihrer alten Gesinnung ermöglichte.

Zum Beispiel der als rechte Hand des Lagerkommandanten des KZ Buchenwald tätig gewesene SS-Funktionär Wolfgang Otto. Ein amerikanisches Militärgericht hatte ihn wegen Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die von den Amerikanern mit der Begnadigung verurteilter Kriegsverbrecher belohnte westdeutsche Wiederaufrüstung brachte auch ihm schon 1952 die Freiheit. Er nutzte sie, um seine Einstellung in den Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen zu beantragen, und wurde, obwohl er seine Beteiligung an den Verbrechen der SS im KZ Buchenwald nicht verschwiegen hatte - er war u.a. an der Ermordung von 8000 sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt - als Lehrer für Religion und Geschichte an einem katholischen Gymnasium in Geldern angestellt und verbeamtet. Als die Sache öffentlich ruchbar wurde und das Land ihn wieder los sein wollte, klagte er mit Erfolg gegen seine Entlassung aus dem Schuldienst und konnte sich im Wege eines Vergleichs eine lebenslängliche Pension sichern. Ich habe diesen Mann und seine von jeder Einsicht und Reue unberührte Gesinnung kennen gelernt, als ich in den 80er Jahren im Auftrage der Tochter des im KZ Buchenwald ermordeten kommunistischen Reichstagsabgeordneter Ernst Thälmann gegen ihn die Anklage erzwungen und als Nebenkläger vertreten habe. Ein Verfahren, das mit dem hierzulande in Prozessen gegen Nazi-Gewaltverbrecher üblichen Freispruch endete.

Wenn es das Ziel der US-Regierung war, Deutschland und die Welt vom Faschismus zu befreien, so ist dies nur höchst unvollständig gelungen. Den Satz, wir verdanken es dem Krieg und insbesondere den Amerikanern, daß wir vom Hitler-Faschismus befreit worden sind, haben uns zwar die Denkfabriken so nachhaltig in die Köpfe geblasen, daß man kaum zu widersprechen wagt. Aber mit der Abschaffung der Hakenkreuzfahne, der Konzentrationslager und der braunen und schwarzen Uniformen allein war es nicht getan.

Was hat sich in den Köpfen der Deutschen verändert, wenn mit dem von Hitler und seinen Vor- und Mitläufern gepflegten Antikommunismus weiterhin eine Politik der permanenten Kriegsbereitschaft getrieben werden konnte? Was hat sich verändert, wenn nach wie vor das faschistische Prinzip vom Recht des Stärkeren, von Adenauer ausdrücklich als „Politik der Stärke“ gepriesen, die Außenpolitik bestimmt? Wie konnte es in einem angeblich vom Faschismus befreiten Land geschehen, daß die an Hitlers Terrorsystem beteiligten Beamten, Richter und Militärs wieder in ihre alten Positionen eingesetzt wurden? Ein Land, in dem alte Mitkämpfer Hitlers, auch solche, die sich nicht schämten, das Ihnen in einem verbrecherischen  Krieg verliehene Ritterkreuz zu zeigen, als Volksvertreter in den Bundestag einziehen konnten. Und gleichzeitig wurde die Partei verboten, deren Mitglieder die meisten Opfer im Widerstand gegen das Hitler-Regime gebracht hatten. Wie sieht es mit der Befreiung vom Faschismus für die kommunistischen antifaschistischen Widerstandskämpfer aus, die in den 50er und 60er Jahren von einer mit Nazi-Richtern und Nazi-Staatsanwälten durchsetzten Justiz wiederum für ihre Gesinnung bestraft wurden? Und was ist das für ein Staat, der kommunistischen Widerstandskämpfern, die viele Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern verbringen mußten, die Wiedergutmachungsrenten aberkannt hat, weil sie nach wie vor Kommunisten geblieben sind? Bei uns sei alles rechtsstaatlich zugegangen, ließ mir der Bundeskanzler Schröder antworten, als ich auf diesen noch immer gültigen Unrechtstatbestand aufmerksam machte.

Wer von Befreiung redet, darf nicht nur an die Menschen denken, die wirklich befreit worden sind. Wenn in diesem Zusammenhang das Wort Auschwitz gefallen ist, sollte der Millionen vergaster Menschen gedacht werden, die ihre Befreiung nicht erlebt haben, weil die Luftgeschwader der Westmächte ihre Bomben nicht auf die Zugangswege zu diesem und anderen Vernichtungslagern abgeworfen haben. Und es sollte auch der Menschen gedacht werden, die nur deshalb in den Verbrennungsöfen der Nazis endeten, weil ihnen das rettende Asyl im westlichen Ausland verweigert wurde. Noch immer viel zu wenig bekannt sind auch die entwürdigenden und für viele tödlichen Bedingungen, unter denen deutsche Flüchtlinge in England und Frankreich als feindliche Ausländer interniert worden sind. Ein schändliches Kapitel des 2. Weltkrieges, das nicht zu der nachträglichen Veredelung des angeblich zur Befreiung vom Hitler-Faschismus geführten Krieges paßt.

Der Krieg hat auch den Millionen Menschen keine Befreiung gebracht, die durch Luftangriffe auf Städte getötet worden sind. Freilich hatte Görings Luftwaffe den ersten Schritt auf dem Wege zum Massenmord an Wehrlosen getan. Aber nicht alles, was der Bevölkerung eines von einem verbrecherischen Diktator geführten Landes angetan wird, ist rechtens und moralisch vertretbar. Auch die Toten von Dresden, um nur diese noch in der Zusammenbruchsphase des Dritten Reiches umgebrachten Menschen zu nennen, erfüllen mich mit Trauer und Empörung. Sie haben sich ihre Befreiung vom Faschismus sicher anders gewünscht. Ebenso wie die Menschen, die mit Bomben und Granaten von Milosevic, den Taliban und Saddam Hussein befreit worden sind.

Daß es zum Segen der von einem Diktator beherrschten Menschen sei, wenn sie durch Krieg befreit werden, ist eine höchst oberflächliche These, die eine von kapitalistischen Denkfabriken manipulierte Mehrheit leider blindlings schluckt. Pazifistisch Denken heißt, die konkreten Schicksale der Menschen sehen, die vom Kriegsgeschehen betroffen sind. Und pazifistisches Denken fordert politische Lösungen zu einem Zeitpunkt, in dem Kriege noch vermeidbar sind. Als Carl von Ossietzky schrieb, daß man Hitler entweder in eine Irrenanstalt stecken oder in Ketten legen sollte, wäre es noch Zeit dafür gewesen.

Was den Westdeutschen nach der Befreiung unter Vormundschaft der Siegermächte und des „Kanzlers der Alliierten“, wie Kurt Schumacher ihn genannt hat, als „Politik der Stärke“ zugemutet wurde, hatte in ihrer auf „Neuordnung bis zum Ural“ ausgerichteten antisowjetischen Aggressivität mehr Ähnlichkeit mit den Fieberphantasien der Nazis, als es die von den Denkfabriken fabrizierten Freiheits- und Demokratielegenden ins öffentliche Bewußtsein dringen ließen.

Daß auch im östlichen Teil Deutschlands die Befreiung vom Faschismus mißlungen ist, indem eine andere Form von Volksentmündigung Platz griff, sei im Rahmen meines Themas nur am Rande vermerkt. Aber in der DDR ist immerhin der Versuch gemacht worden, das an Hitlers Terrorregime beteiligte Personal - und dazu gehörten wohlgemerkt auch und insbesondere die kapitalistischen Profiteure seines Krieges - durch Menschen zu ersetzen, die eine friedlichere Welt schaffen wollten. Daß viele dieser Menschen, für deren Engagement westdeutsche Denkfabriken das Wort „Staatsnähe“ erfunden haben, nach der feindlichen Übernahme der DDR kriminalisiert und nach Maßstäben abgeurteilt wurden, die man bei der juristischen Abrechnung mit den unvergleichlich gravierenderen Verbrechen der Nazis und der Wehrmacht trickreich vermieden hat, paßt in das Gesamtbild dieser auch nach Hitler noch von den Machern des militanten Antikommunismus beherrschten Epoche. Es war der Geist oder richtiger: Ungeist der Adenauer-Zeit, der wieder lebendig wurde, als westdeutsche Politiker und Juristen Gelegenheit bekamen, mit ostdeutschen Kommunisten - ich rede nicht von denen, die wirklich Verbrechen begangen haben - im Wege der politischen Justiz abzurechnen. Kein Wunder, daß sich angesichts dieses Zeitgeistes ein Opportunist wie Gerhard Schröder nicht an rechtsstaatliche Defizite erinnern konnte, als ich ihn aufforderte, etwas für die Rehabilitierung der Justizopfer des kalten Krieges zu tun, die in den 50er und 60er Jahren von einer noch mit Nazijuristen durchsetzten Richterschaft ins Gefängnis geschickt worden sind.

Das Wort von der Befreiung vom Faschismus wird zum Spott, wenn man in Betracht zieht, wie diese Befreiung für die unzähligen Nazigewaltverbrecher ausgesehen hat. Etwa für den SS-Hauptscharführer Wolfgang Otto, der trotz seiner Beteiligung an unzähligen Morden im KZ Buchenwald Lehrer und Beamter werden konnte. Nicht nur die Hitler-Generäle, die Adenauers Wiederaufrüstungsprogramm entwickeln durften, konnten sich befreit fühlen von jeder Verantwortung für die von ihnen befohlenen Massenmorde. Einem ganzen Heer von Kriegsverbrechern wurde von einer kameradschaftlich mitfühlenden Justiz bescheinigt, daß sie straflos morden durften. Für viele war die Befreiung vom Faschismus eine Befreiung zum Faschismus.

In der Logik des neuen für die US-amerikanische Rüstungsindustrie profitablen Feindbildes Sowjetunion lag es, daß man sich nicht nur der Generäle und Offiziere der Hitler-Wehrmacht, sondern auch der altgedienten Geheimdienstexperten bediente. Und auch da konnte man nicht nur deren technisches Wissen, sondern ebenso deren antikommunistische Gesinnung brauchen.

Der amerikanische Journalist Christopher Simpson, dessen Buch „Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA“ seit 1988 auch in deutscher Übersetzung vorliegt, hat den Einfluß von Nazi-Kriegsverbrechern auf die amerikanische Außenpolitik gründlich untersucht und ist zu beklemmenden Ergebnissen gekommen, die vieles erklären, was nicht zu den edlen Zielen paßt, für die angeblich Kriege geführt werden.

Ich zitiere (S.74):

Der Weg von der Kooperation zur Konfrontation  mit Moskau war in den USA nach 1945 auch mit den Vorurteilen und Revanchevorstellungen gepflastert, die die neugewonnenen Altnazis und Kollaborateure mitbrachten, auf deren Dienste die Amerikaner nicht meinten verzichten zu können. Eine besonders nachhaltige und problematische Wirkung erzielten die Informationen, die man über die Organisation Gehlen bezog, deren Mitarbeiter, allen voran der Chef, sich vom gleichen fanatischen und daher blinden Antikommunismus leiten ließen, wie seinerzeit im blutigen „Kreuzzug“ gegen den Bolschewismus. Ihre Glaubwürdigkeit litt darunter nicht in den USA, im Gegenteil: Entsetzt von Stalins Brutalpolitik, glaubten viele auch die abwegigsten Mutmaßungen.

Simpson zitiert den sowohl vom CIA als auch vom US-Außenministerium beschäftigten Auswertungsfachmann für sowjetische Angelegenheiten, Arthur Macy Cox:

Am wichtigsten war jedoch, daß Gehlens Fach- und Auswertungsleute die im US-Geheimdienst bereits vorhandene paranoide Einstellung der UdSSR und dem Kommunismus gegenüber förderten und dadurch wesentlich zum Zerrbild von der sowjetischen Realität beitrugen. (S.76)

Und daraus resultierte die zentrale aus Informationen der Organisation Gehlen stammende Bedrohungslegende, daß die Sowjets im Begriff standen, West-Deutschland anzugreifen (S.77). Der deutsche Bundeskanzler Adenauer und seine Gefolgsleute beschworen diese Phantasien, mit denen sie die Deutschen auf Antikommunismus und Kriegsbereitschaft trimmten, bei jeder sich bietenden Gelegenheit und fügten ihnen Lügen über den Inhalt und die Ernsthaftigkeit der auf eine friedliche deutsche Wiedervereinigung gerichteten sowjetischen Noten von 1952 und 1954 hinzu („ein Fetzen Papier“). Auch in Adenauers unmittelbarer Umgebung gab es bekanntlich Leute, die sich schon unter Hitler als Antisemiten und Antikommunisten bewährt hatten und nun wenigstens ihren alten Kommunistenhaß in christlichem Gewande erneuern konnten.

Was waren das für Leute, die in der Organisation Gehlen für die US-Administration arbeiteten? Christopher Simpson hat ihren Karrieren nachgespürt.

Gehlens Mann für Emigrantenunternehmungen, SS-Brigadeführer Dr.Franz Six, war in der Abteilung für „Ideologischen Kampf“ des Sicherheitsdienstes (SD) Vorgesetzter von Adolf Eichmann. Dieser hat ihn als besonderen Schützling von Reichsführer SS Himmler bezeichnet. 1941 leitete Six ein militärisches Vorkommando, das in Smolensk ungefähr 200 Menschen kaltblütig ermordet hat. Six berichtete an das Hauptquartier, daß sich unter den Erschossenen 46 Personen, darunter 38 jüdische Intellektuelle, befunden hätten, die versucht hätten, in dem neuerrichteten Ghetto in Smolensk Unruhe und Unzufriedenheit zu stiften. Noch 1944 hielt Six einen Vortrag über das Weltjudentum, in dem er verkündete, „die physische Ausrottung der Ostjuden würde das Judentum seiner biologischen Reserven berauben“. (S.68) Six hatte das Pech, nach dem Krieg von einem ehemaligen SS-Kameraden verraten und vor ein amerikanisches Militärgericht gestellt zu werden. Als ihm die Beteiligung an Massenmorden vorgehalten wurde, sagte er: „Wer ich? Es sind Juden umgebracht worden? Davon hatte ich keine Ahnung.“ Er wurde zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, brauchte aber nur vier Jahre zu verbüßen, da auch er im Zuge der westdeutschen Wiederbewaffnung begnadigt wurde. Schon wenige Wochen nach seiner Haftentlassung nahm er seine Tätigkeit in Gehlens Hauptquartier in Pullach wieder auf. (S.70 f.) Und als man ihn dort nicht mehr brauchte, wurde er Vertreter für Porsche.

Gehlens zweitwichtigster Mitarbeiter für Ostangelegenheiten war Dr.Emil Augsburg, ein ehemaliger SS-Standartenführer aus Himmlers Stab in Polen. Wie Eichmanns hatte auch Augsburgs Laufbahn in Six’ Abteilung begonnen...

Während des Krieges leitete Augsburg ... ein Mordkommando im besetzten Rußland. Er erzielte „außergewöhnliche Ergebnisse ... bei Sondereinsätzen“, wie eine Empfehlung in seiner Personalakte lautet. (Im SS-Jargon ist „Sondereinsatz“ im allgemeinen eine Umschreibung für den Massenmord an Juden.) (S.71)

Aus dem von Christopher Simpsons auf über 450 Buchseiten ermittelten Material greife ich ein weiteres Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen der US-Administration und Nazi-Kriegsverbrechern heraus.

Ende 1948 hatte der US-amerikanische Generalstab ein Programm für einen Guerillakrieg genehmigt, der auf einen US-Atomschlag gegen die Sowjetunion folgen sollte. Dafür wurden überlebende Angehörige der Wlassow-Armee und andere Emigranten, vor allem osteuropäische Freiwillige der ehemaligen Waffen-SS, angeworben. Bis 1950 hatte man annähernd 30.000 sogenannte Arbeitsrekruten, die aus Tarnungsgründen als Lastwagenfahrer bezeichnet wurden, für den Guerillakampf ausgebildet.

Um was für Leute es sich dabei handelte, ist zu erahnen, wenn man die von Christopher Simpson zitierte Äußerung des ehemaligen Leiters der Geheimoperationen der CIA in Rußland, Harry Rositzke, kennt:

Es war unbedingt notwendig, daß wir jeden Schweinehund verwendeten, Hauptsache, er war Antikommunist. (S.195)

Auch in Deutschland wurden solche Schweinehunde für den Guerillakrieg rekrutiert.

1950 benützten die CIC- und CIA-Agenten die Arbeitseinheiten als Tarnung für die Guerillaausbildung von mindestens hundert Mitgliedern des rechtsextremen „Bundes Deutscher Jugend“ (oder BDJ). ...(zumeist ehemalige Soldaten der Waffen-SS und der Wehrmacht)

Wie später in einem Bericht des westdeutschen Parlaments festgestellt wurde, unterzogen amerikanische und deutsche Berater die BDJ-Agenten einer gründlichen militärischen Schulung, einschließlich „der Verwendung von russischen, amerikanischen und deutschen Waffen sowie von Maschinengewehren, Handgranaten und Messern ... (und von) leichten Infanteriewaffen und Sprengstoffen...

Doch die Ausbildung war nur der Anfang. Die Leiter des „Technischen Dienstes“ des BDJ sahen für den Fall eines sowjetischen Angriffs eine ihrer Hauptaufgaben in der Liquidierung von ihrer Meinung nach zu „linken“ deutschen Politikern. Die deutschen Kommunisten standen natürlich auf der Mordliste des Technischen Dienstes an oberster Stelle. Es folgten die Führer der westdeutschen Sozialdemokratischen Partei. Der Technische Dienst hatte vor, über vierzig sozialdemokratische Spitzenfunktionäre zu ermorden, darunter auch den seit Herbst 1952 amtierenden Vorsitzenden der Partei, Erich Ollenhauer, den Innenminister von Hessen, Heinrich Zinnkann, und die Bürgermeister von Hamburg und Bremen. Die von den USA ausgebildeten Geheimagenten des BDJ infiltrierten die SPD und beschatteten die Spitzen der Partei, damit sie rascher töten konnten, wenn es soweit war.

Das Komplott wurde 1952 aufgedeckt, als die örtliche Polizei bei einer Verhaftung die Liste der zu ermordenden sozialdemokratischen Funktionäre fand. (S.180 f.)

Die nachfolgenden Untersuchungen deutscher Stellen wurden vom amerikanischen CIC behindert, indem man die Mitglieder des BDJ in Gewahrsam nahm und vor deutschen Behörden versteckte. Auch alle schriftlichen Unterlagen wurden vom CIC beschlagnahmt und deutschen Behörden vorenthalten. Schließlich mußten aber die US-Behörden zugeben, daß sie die geheime Ausbildung der jungen Deutschen gefördert und finanziert hatten, „um sie im Fall eines Krieges mit der Sowjetunion als Guerillas einzusetzen.“ Von den Mordplänen hätten sie nichts gewußt.(S.181 f.)

Daß Morde an mißliebigen ausländischen Politikern zum Geschäft der amerikanischen Geheimdienste gehören, ist kein Geheimnis, seit die Mordversuche an Fidel Castro und der Mord an Patrice Lumumba durch die Medien gegangen sind. Für den guten antikommunistischen Zweck ist der herrschenden Klasse der USA jedes Mittel recht.

Es waren schließlich weder Morde an führenden Kommunisten und Sozialisten noch vernichtende Atombombenschläge nötig, um die Sowjetunion zusammenbrechen zu lassen und dem in der kapitalistisch beherrschten Welt gefürchteten Sozialismus ein, - wie ich hoffe: vorläufiges - Ende zu setzen. Vielmehr ging das von den kapitalistischen Machteliten und ihren politischen Interessenvertretern entwickelte Konzept auf, die Sowjetunion totzurüsten. Ein Thema, dem Jürgen Bruhn sein lesenswertes Buch „Der Kalte Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion“ gewidmet hat (1995).

Bruhn schreibt (S.235 f.):

Reagans Superrüstung hat der UdSSR den Todesstoß versetzt, sie so bankrott gerüstet, daß ihre auch durch 45-jährige Nachrüstungsanstrengungen zerrüttete, zentralistische Kommandowirtschaft durch Gorbatschows Reformen nicht mehr zu retten war. ... Der „Große Feind“ existiert nicht mehr. Die Bedrohung aus dem Osten“ gehört der Geschichte an. Das „Reich des Bösen“ ist ausgelöscht.

Doch der US-militär-industrielle Komplex steht vor einem schwer lösbaren Problem. Was nun? Wodurch sollen jetzt die neuen Rüstungsaufträge begründet werden, da es die Sowjetunion nicht mehr gibt? Wer soll die Rolle des neuen Auftragsbeschaffers spielen?... Wo ist der neue große Feind, gegen den man vorrüsten muß? Wer sichert nun die Profite und Arbeitsplätze der US-Rüstungsindustrie und ihrer Zulieferindustrien?...

Der US-militär-industrielle Komplex hat seit 1945 einen gigantischen Apparat aufgebaut, den man kaum zurückdrehen kann, ohne der amerikanischen Gesamtwirtschaft schweren Schaden zuzufügen. Und so könnte das Verschwinden der UdSSR am Ende auch den Vereinigten Staaten eine schwere Wirtschaftsdepression bereiten, wenn man nicht umgehend einen neuen großen Feind entdeckt, der die Rüstungsindustrie wieder ankurbelt und ihr die nötigen Aufträge verschafft.

Das ist zu einer Zeit geschrieben worden, als die Denkfabriken des Herrn Bush den neuen Weltfeind Terrorismus noch nicht erfunden hatten und die Notwendigkeit, die Freiheit am Hindukush zu verteidigen, noch nicht entdeckt war.

Wer diese Interessenlage des US-militär-industriellen Komplexes und des von ihm abhängigen Präsidenten begriffen hat, sieht auch deren Suche nach neuen lukrativen Kriegsschauplätzen mit anderen Augen als jene auf Bedrohungs- und Befreiungslegenden fixierten Kriegsbefürworter, die sich als die besseren Kenner der Geschichte ausgeben. Vielleicht hat ja das offizielle Eingeständnis, daß im Irak trotz aller Mühe keine Massenvernichtungsmittel gefunden werden konnten, manchem die Augen dafür geöffnet, daß auch dieser Angriffskrieg mit erfundenen Gründen vom Zaun gebrochen worden ist. Und wer die Berichte über den Widerstand der irakischen Bevölkerung gegen das verhaßte Besatzungsregime und die von diesem eingesetzte Marionettenregierung liest, muß sich doch fragen, ob die Kriegsbefürworter nicht nur einer Bedrohungs-, sondern auch einer Befreiungslegende aufgesessen sind. Eine Frage, die sich immer wieder stellt, wenn Kriege mit edlen Zielen begründet werden.

(Dieser Text ist im März 2004 als Sonderdruck der Zweiwochenschrift „Ossietzky“ veröffentlicht worden)

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